
#Gedankenspiele @AKAD |Nr.6|
In dieser Reihe laden Sie heute Prof. Dr. Verena Jung und Prof. Dr. Gardenia Alonso zum Gedankenspiel ein:
Kommunikation kulturell konstruieren
„Bei jedem ist die Periode etwas anders.“
(Beipackzettel des O.b. Tampons bis etwa 1995)
„Sie sind jetzt stolze Besitzerin einer Kenwood Küchenmaschine.“
(Bedienungsanleitung Kenwood ca. 1992)
Die implizite Leserin
Zwei Kundenansprachen, die im 20. Jahrhundert angeboten wurden, die unsinnig sind und verwirren bzw. verletzen können.
Da Männer keine Periode haben, ist die männliche Ansprache hier unsinnig und unsensibel. Da aber Frauen und Männer beide Küchenmaschinen nutzen können, ist die bewusste Einschränkung auf Frauen hier ebenso unangebracht.
Was beide Textformulierungen aber sehr deutlich machen, ist, dass Werbetexte uns deutlich zu verstehen geben, wen sie ansprechen. Dass Texte also ihre Leserschaft konstruieren bzw. ein Bild vermitteln, welche Art von Leser:innen erwartet werden. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser hat diesen Umstand schon in den 1970er Jahren mit dem Konzept des „impliziten Lesers“ beschrieben – Autor:innen konstruieren durch ihre Wortwahl, durch ihre Themenwahl und durch ihre stilistischen Entscheidungen ihre Leserschaft.
Natürlich können Autor:innen oder Firmen nicht verhindern, dass Menschen, die nicht als Leser:innen vorgesehen waren, ihre Texte lesen. Aber die Texte vermitteln durch ihre Formulierung häufig ganz deutlich, für wen sie gemeint sind.
Das bedeutet aber leider auch, dass viele Texte absichtlich oder unabsichtlich ganze Kundengruppen oder Bewerbergruppen ausgrenzen.
Lokal oder global?
In einem Beitrag für das AKAD Forum 2017 hatte ich schon angesprochen, dass ein weltweit agierender Versandhandel nicht gut fährt mit „Capri-Shorts for those hot December days“. Auch wenn Australier sich dadurch direkt angesprochen fühlen.
Es gibt also zwei Methoden, die Leserschaft anzusprechen. Texte können lokal sein, also nur eine ganz kleine Gruppe von Lesenden ansprechen. Oder Texte können global formuliert sein, also so neutral gestaltet sein, sodass sich keine Gruppen ausgeschlossen und alle angesprochen fühlen.
"Jede Hausfrau kennt die Frustration, wenn ihr der Wäscheberg über den Kopf wächst."
(Konkret, nur auf eine kleine Gruppe, die der Hausfrauen bezogen)
"Wir alle kennen das Gefühl, dass uns der Wäscheberg über den Kopf wächst."
(Ganz allgemein, weder Männer noch Frauen ansprechend, auch nicht länderspezifisch)
Wenn wir uns als Firma oder als Organisation aber dann eigentlich für einen globalen Ansatz entschieden haben, also möglichst allgemein verständlich sein wollen und mit unseren Kunden auf Augenhöhe sein wollen, ist dazu oft intensive Recherche vonnöten.
Um die Frage der kulturellen Konstruktion an Beispielen aufzuzeigen, möchten wir hier zwei kürzlich abgeschlossene studentische Forschungsprojekte vorstellen.

Stellenanzeigen im kulturellen Kontext
Im ersten Projekt, verfasst von IBC-Absolventin Joanna Connell, geht es darum, wie LIDL sich für Bewerbende um eine Stelle als Marketingmanager in Szene setzt, und zwar in drei kulturellen Kontexten: in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. So sieht die deutsche LIDL-Präsentation aus:
Die Präsentation ist gut, aber eben typisch deutsch, also in etwa: Wir sind toll, deshalb sollten Sie zu uns kommen.
Auch nach den von der Übersetzungswissenschaftlerin Juliane House etablierten fünf Sprachdimensionen ist diese Anzeige typisch deutsch: Konzentration auf die eigene Information, kein Versuch, die Bewerbenden hier schon direkt anzusprechen.

Ganz anders sieht die Vorstellung LIDLs in der englischen Anzeige aus. Hier werden die potenziellen Bewerbenden direkt angesprochen, aber eben in ihrem Bezug auf LIDL. Gleichzeitig führt man schon in die Arbeit eines:r Social Media Manager:in ein, bevor man diese Stelle vorstellt. Die englische Stellenanzeige schlägt eindeutig einen interaktiven Ton an und tritt sofort in einen Dialog mit den Bewerbenden.

Die französische Stellenanzeige dagegen spricht weder über das Unternehmen noch über die Erwartungen der Bewerbenden. Sondern sie fasst in einem Satz kurz die Stellenaufgabe zusammen.
Bei diesem Vergleich geht es aber nicht darum, zu sagen, dass nur die englische Stellenanzeige gelungen ist. Die englische, deutsche und französische entsprechen dem jeweiligen Kulturkreis. Sie konstruieren also ihre Bewerbenden passend zur Kultur des Landes, in dem LIDL jeweils arbeitet. Allerdings kann die Unternehmenskultur sich auch ein wenig über die Landeskultur hinwegsetzen und etwas Neues wagen, um bewusst eine ungewöhnlichere, interaktivere Ansprache zu wählen.

So wagt die deutsche LIDL-Stellenanzeige die Entscheidung, die Bewerbenden mit Du anzusprechen. Etwas, das nicht typisch für die deutsche Landeskultur ist, aber eben typisch für das Image des LIDL-Konzerns und für die Rolle eines:r Social Media Manager:in.
Es wird also deutlich, dass es sich lohnt, nicht nur die Kundenansprache, sondern auch die Ansprache der Bewerbenden kulturell so zu konzipieren, dass sich potenzielle Mitarbeitende einerseits ihrer Kultur entsprechend angemessen angesprochen fühlen.
Einbettung in vertraute Kultur
Besonders wichtig ist der richtige Ton, die richtige Kundenansprache natürlich bei Produkten, die von ihrer sprachlichen Konstruktion leben, also Bücher, Filme oder eben Videospiele.

Gerade bei Videospielen ist es ja üblich, bei der Übertragung eines Spiels in eine andere Kultur nicht von Übersetzung, sondern von Lokalisierung zu sprechen, also Einbettung in eine Kultur, die dem:der Spieler:in vertraut ist. Hier möchte ich noch kurz die Ergebnisse eines weiteren studentischen Forschungsprojektes vorstellen. Es ist das Projekt des Fachübersetzerabsolventen Michael Ulrich, das sich mit der englischen und deutschen Übersetzung eines japanischen Videospiels beschäftigt hat.
Dabei geht es nicht nur darum, für die japanische Kultur konzipierte Inhalte ins Englische und/oder Deutsche zu übertragen. Manchmal ist es auch noch wichtig, die Wörter passend zum Bildmaterial zu übersetzen.
Hier das Titelbild eines japanischen Videospiels auf Japanisch, Englisch und Deutsch. Dabei fällt vor allem auf, dass das deutsche Spiel den englischen lokalisierten Titel übernommen hat. Das japanische Videospiel hat also im Deutschen eine große Portion amerikanische Kultur mitaufgenommen, eben, weil diese für Deutsche weniger fremd ist.
Dasselbe passiert auch mit den Namen, hier werden jeweils die amerikanischen Namen übernommen.

Wenn man bedenkt, dass der kulturelle Kontext, also das Aussehen des Gerichtssaals etc., nicht abgeändert wurden, ist diese Entscheidung besonders verwirrend.

Da viele Anhänger:innen von japanischen Videospielen eigentlich diese gerade wegen des kulturellen Kontexts spielen und durch die Spiele auch etwas über das japanische Lebensgefühl erfahren möchten, stellt sich hier die Frage, ob für die deutsche Lokalisierung nicht eine ganz andere Strategie angebrachter gewesen wäre. Nämlich die Strategie, auf Deutsch in die japanische Lebenswelt einzuführen.

Wie Bilder global unterschiedlich interpretiert werden
Wenn schon bei Videospielen Bild- und Textmaterial abgestimmt werden müssen, dann ist das bei Werbebroschüren erst Recht der Fall.
In diesem Beispiel geht es nicht darum, wie die Werbeanzeige für ein Parfum konstruiert ist. Sondern, wie die Gestik interpretiert wurde. Was im europäischen Raum suggestiv und verführerisch wirkt, ist für den arabischen Raum anscheinend nicht akzeptabel und wurde deshalb der Kultur angepasst. Dies macht einmal mehr deutlich, dass die Verwendung von Motiven nicht global in der Mediawerbung standardisiert werden kann.
Identifikation mit kulturellem Konstrukt entscheidend
Wir hoffen, diese Beispiele haben insgesamt gezeigt, wie deutlich Kundenkommunikation, Stellenanzeigen und Textprodukte gleichzeitig die Kultur ihrer Herkunft und die Erwartungen an die Kultur des Rezipienten reflektieren.
Es heißt ja, es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren. Das bedeutet aber auch, es ist nicht möglich, eine Stellenanzeige, einen Werbeprospekt oder ein Videospiel zu erstellen oder zu übersetzen, ohne die Leserschaft kulturell zu konstruieren.
Wenn Leser:in, Bewerber:in oder Kund:innen sich dann nicht gemeint fühlen oder sich mit diesem kulturellen Konstrukt nicht identifizieren können, scheitert die Kommunikation. Die Kund:innen kaufen das Produkt nicht oder die Bewerber:innen zeigen kein Interesse an der für sie wenig ansprechenden Stellenanzeige.
Bildquellen
[1]Lidl DE (2021b): Jobsuche - Content Marketing Manager E-Commerce (m/w/d), Lidl in Deutschland und International. Abgerufen am 30. Mai 2021.
[2] Lidl FR (2021): Jobs - Chargé de Marketing Digital & Acquisition (h/f), Lidl France. Abgerufen am 30. Mai 2021.
[3] Lidl GB (2021): Job Search - Social Media Manager (24 hours), Lidl GB and International. Abgerufen am 30. Mai 2021.
[4] Gyakuten Saiban 2 逆転裁判2. Capcom, 2006. / Phoenix Wright: Ace Attorney − Justice for All. Capcom, 2019.
[5] Hollensen, Svend: Essentials of Global Marketing. Second Edition. Essex: Pearson Education Limited, 2012, S. 156
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