
Tokio Hotel – oder: die Illusion des Verstehens
Kaum jemand kommuniziert so subtil wie Japaner. Gerade für die direkten Deutschen macht sie das zu den denkbar schwierigsten Geschäfts- und Verhandlungspartnern. Wie diese Antipoden des Verhandlungsstils zusammenfinden können, erklärt AKAD-Rektor Prof. Dr. Torsten Bügner in seinem Gastbeitrag für den AKAD Blog.
Bob Harris, ein amerikanischer Schauspieler, der schon bessere Zeiten gesehen hat, wartet auf seinen Einsatz für einen Whisky-Werbespot in einem Filmstudio in Tokio. Eine Dolmetscherin unterhält sich einige Minuten mit dem Regisseur. Als Übersetzung teilt sie „Mr. Bob-san“ mit, er möge bitte in die Kamera schauen. Als Bob nachfragt, ob das denn alles gewesen sei, was der Regisseur mit ihr besprochen hat, meint sie nur: „Ja, bitte, in die Kamera schauen.“ Der Schauspieler ist genervt. Er versteht die Dolmetscherin nicht, nicht den Regisseur, der zehnmal mehr sagt, als Bob mitgeteilt wird, nicht die Stadt, die Gesten, die andauernden Verbeugungen und Ehrbezeugungen – er will nur noch weg. So verbringt er seine drehfreie Zeit in der New York Bar im 52. Stock des Park Hyatt Hotels, zusammen mit anderen heimwehkranken Expatriates. Vor allem mit Charlotte, mit der er eine bittersüße Liebesgeschichte beginnt.
Mit Übersetzen ist es nicht getan
Filmfans haben es längst erkannt: Die Szene stammt aus Sofia Coppolas Film Lost in Translation, einem wunderbaren Traktat über das Leben in der Fremde – und die Unmöglichkeit, den anderen und das andere zu verstehen. Der Filmtitel bringt es auf den Punkt: Fremdheit, das andere, lässt sich nicht übersetzen. Schon gar nicht aus dem Japanischen, einer Sprache, die über eine Vielzahl von Abstufungen hinsichtlich Anrede, Register und Höflichkeit verfügt. In englischer und deutscher Übersetzung ist dies niemals adäquat wiederzugeben – es wäre wortwörtlich lost in translation. So wie mit der Sprache scheint es westlichen Geschäftsleuten mit der japanischen Kommunikation ganz allgemein zu gehen. Untersuchungen bestätigen immer wieder: Geschäftsverhandlungen mit Japanern gehören zu den schwierigsten Unterfangen auf der internationalen Wirtschaftsbühne. Selbst nach längerem Aufenthalt betonen Expatriates die Kluft zwischen Japanern und ihnen selbst und die Unmöglichkeit, diese zu verringern. Was macht denn nun die Kommunikation zwischen Japanern und gaijin (Nicht-Japanern) so kompliziert?
Deutsche und Japaner: Antipoden des Verhandlungsstils
Der amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall unterscheidet zwischen low-context cultures und high-context cultures. In low-context Kulturen wie Deutschland, der Schweiz oder den USA, sind Beziehungen im Geschäftsleben formalisiert. Der Verhandlungsstil ist direkt, klar und eindeutig. Anders in den high-context Kulturen. Der von allen innerhalb dieser Kulturen unausgesprochen geteilte Kontext bewirkt, dass Informationen, die bekannt sind, nicht noch einmal erwähnt oder gar verschriftlicht werden müssen. Nicht das Was ist wichtig, sondern das Wie. Japan gilt als extremes Beispiel einer high-context Kultur. Fast nirgendwo sonst ist Kommunikation von einer derart großen Subtilität. Kleinste Abweichungen von Standardformulierungen, kleinste Gesten, Lachen und Schweigen tragen Bedeutungen, die für Nicht-Japaner kaum zu dechiffrieren sind. Bezüglich der Direktheit sind deutscher und japanischer Verhandlungsstil absolute Antipoden. Die Indirektheit des japanischen Verhandlungsstils hat mit zwei weiteren zentralen Elementen der japanischen Kultur zu tun: dem Streben nach Harmonie und der starken Gruppenloyalität. Die Verbindung dieser beiden Grundkonstanten der japanischen Gesellschaft zeigt sich in vielen Bereichen der Wirtschaftskommunikation. Unmöglich, auf einen Vorschlag mit einem direkten „nein“ zu antworten. Unmöglich, eine einzelne Person vor einer Gruppe zu kritisieren oder zu loben.
Zentrale Konfliktpunkte trotz Anzeichen für Wandel
Dass sich natürlich auch die japanische Geschäftswelt ändert – nicht zuletzt angetrieben durch jüngere Manager, die im Ausland studiert haben – und dass hinter der Oberflächenharmonie die Realität in vielen Firmen ähnlich wie in westlichen Ökonomien aussieht, sollte freilich auch erwähnt werden. Der japanerfahrene amerikanische Autor Boye de Mente erwähnt in diesem Zusammenhang die für die japanische Geschäftskommunikation bedeutsamen Begriffe tatemae (etwa Fassade) und honne (die Realitäten hinter der Fassade). Diese äußerliche Stilisierung und Formalisierung japanischer Kommunikationsformen ist ein zentraler Konfliktpunkt etwa bei deutsch-japanischen Geschäftsverhandlungen. Während Deutsche für ihre Direktheit (auch im Negativen) international bekannt sind – der Soziologe Erik Grawert-May hat dies einmal treffend als „die Sucht, mit sich identisch zu sein“ beschrieben – , erscheint Deutschen wiederum japanisches tatemae als unehrlich und unaufrichtig. Hier haben es beispielsweise US-Amerikaner leichter. Denn in der amerikanischen Wirtschaftswelt gibt es das Konzept der „professional courtesy“, der hochgradig standardisierten Geschäftskommunikation, deren ungeschriebene Gesetze von allen Beteiligten beachtet werden.

Exkurs: Maskulinität und Feminität in der Berufswelt
Ein bislang wenig thematisierter Unterschied zwischen deutschen und japanischen Kommunikationsformen lässt sich aus Untersuchungen des niederländischen Organisationsanthropologen Geert Hofstede herleiten. Ausgehend von empirischen Befragungen von 116.000 IBM-Mitarbeitern in 72 Ländern definiert Hofstede fünf Kulturdimensionen (zu denen sich im Laufe der Zeit weitere dazugesellt haben): Machtdistanz, Individualismus vs. Kollektivismus, Maskulinität vs. Feminität, Unsicherheitsvermeidung und Langzeitorientierung vs. Kurzzeitorientierung. Wenngleich Hofstedes Ergebnisse sowohl methodisch als auch inhaltlich durchaus kritisiert werden können, stellt sein Ansatz doch einen wertvollen Eckpfeiler innerhalb der interkulturellen Wirtschaftskommunikation dar.
Maskulin und feminin bezeichnen dabei die sozialen, kulturell vorherbestimmten Rollen. Die Begriffe sind nicht absolut. Ein Mann kann eher „feminine“ und eine Frau eher „maskuline“ Verhaltensweisen aufweisen. Laut Hofstede bedeute das lediglich, dass dieses Verhalten von den gesellschaftlichen Konventionen abweicht.
Auf der Basis der IBM-Umfragen postuliert Hofstede für die Berufswelt jeweils vier „maskuline“ und vier „feminine“ Charakteristika. Für maskuline Wirtschaftskulturen sind Einkommen, Anerkennung, Beförderung und Herausforderung wichtig. Feminine Kulturen legen Wert auf das Verhältnis zum direkten Vorgesetzten, die Zusammenarbeit mit Kollegen, die Arbeitsumgebung sowie die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Bezüglich der Rollen, die das Individuum in einer Gesellschaft spielt, hält Hofstede fest: „Eine Gesellschaft bezeichnet man als maskulin, wenn die Rollen der Geschlechter emotional klar gegeneinander abgegrenzt sind: Männer haben bestimmt, hart und materiell orientiert zu sein, Frauen dagegen müssen bescheidener, sensibler sein und Wert auf Lebensqualität legen. Als feminin bezeichnet man eine Gesellschaft, wenn sich die Rollen der Geschlechter emotional überschneiden: sowohl Frauen als auch Männer sollen bescheiden und feinfühlig sein und Wert auf Lebensqualität legen.“
Japan auf maskulinem Spitzenplatz
Im sogenannten Maskulinitätsindex erhalten Länder einen Punktewert zwischen 100 und 0. Dabei steht 100 für das am stärksten maskuline Land und 0 für die am stärksten feminine Nationalkultur. Japan besetzt hier mit 95 Punkten einen maskulinen Spitzenplatz. Deutschland liegt mit 66 Punkten zusammen mit China und Großbritannien auf Platz 11. Die am stärksten femininen Länder sind Schweden (5 Punkte), Norwegen (8), die Niederlande (14) und Dänemark (16). Selbst wenn Deutschland hier doch wesentlich näher an japanischen Standards liegt als etwa die skandinavischen Länder, sind die Unterschiede in der Kommunikation doch gewaltig. Hinzu kommt, dass Hofstede für reichere Länder eine Verschiebung in Richtung femininer Werte prognostiziert. Zudem wird in Deutschland hinsichtlich Sozialstandards und Unternehmenskultur immer stärker die Orientierung an skandinavischen Ländern eingefordert. Der Spitzenplatz Japans überrascht wenig, wenn man die im vorangegangenen erwähnten Standards japanischer Kommunikation betrachtet. Klar definierte Rollen und vorhersehbare Verhaltensweisen innerhalb der sozialen Interaktion spiegeln sich nicht zuletzt in der japanischen Sprache, deren innere Ausdifferenzierung auch zwischen „männlichem“ und „weiblichem“ Sprachgebrauch unterscheidet. Ein deutscher Manager, der, weil er es im Japanischkurs von einer Lehrerin nun mal nicht anders gelernt hat, weibliches Begriffsinventar verwendet, wirkt lächerlich!
Wenig Gegenliebe für deutsche „Verstehenssucht“
Die Auswirkungen der Dichotomie maskulin-feminin auf die Wirtschaftskommunikation zeigen, wie wichtig eine Beschäftigung mit den Theorien der interkulturellen Kommunikation für die tägliche Interaktion am Arbeitsplatz ist. Führungsstil, hierarchische Organisation, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, Teamarbeit, Belohnungssysteme, Verhalten in Konfliktsituationen – dies sind einige wenige Beispiele für potentielle Reibungsflächen zwischen deutschen und japanischen Geschäftspartnern und Kollegen. Abschließend sei noch ein weiteres typisch deutsches Charakteristikum erwähnt, welches erfolgreiche Geschäftsbeziehungen mit Japanern erschwert. Man kann dies als teutonische „Verstehenssucht“ bezeichnen, als faustisches Bestreben, immer die Wahrheit hinter allen Dingen erkennen zu wollen. Doch ein derartiges Verhalten, welches vielleicht noch durch interkulturelle Trainingsseminare vor der Abreise verstärkt wurde, stößt gerade in Japan auf wenig Gegenliebe. Japanische Identität basiert zu einem Gutteil auf der Vorstellung der Insularität, der Einzigartigkeit der japanischen Kultur und Gesellschaft, welche von einem gaijin niemals verstanden werden können. Statt verstehen ist akzeptieren gefordert. Und hier kam man sich ein Beispiel an Bob Harris nehmen, der es irgendwann aufgibt, all die Seltsamkeiten des japanischen Alltags ergründen zu wollen – und in einem Karaoke-Club zum Mikrophon greift und für Charlotte More Than This singt. In diesem Augenblick akzeptiert er die Illusion des Verstehens – und wird ein klein wenig japanisch.
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